- Definition Vanilla
Vanille (Syn. Stino [vulgär], Normalo; engl.: Vanilla) n. ``Psychosexuelle
Krankheit'' aus der Gruppe der Perversionen (Paraphilien), gekennzeichnet
durch eine reduzierte Fähigkeit zur adäquaten Reaktion auf bestimmte
sexuelle Reize, einer stereotypisch begrenzten Wahl der angewandten
sexuellen Praktiken und einem verarmten Phantasieleben.
Vanillas tritt oft zusammen mit einer Unfähigkeit zur Annahme komplexer
Spielpersönlichkeiten sowie Störungen der partnerschaftlichen Vertrauens-
und Kommunikationsbeziehung auf. Die Erkrankung kommt bei beiden
Geschlechtern gleich häufig vor und wird meist im jungen Erwachsenenalter
diagnostiziert. Vanillas wurden zum ersten Mal 1886 durch den deutschen
Psychiater Richard von Krafft- Ebing von der normalen Bevölkerung
abgegrenzt. Leitsymptom ist eine Unfähigkeit, auf simulierte Dominanz-
Unterwerfungs-Beziehungen oder ihre Darstellungen sexuell angemessen zu
reagieren. Vanilles sind nicht in der Lage, ein Machtgefälle zum Zweck des
Lustgewinns aufzubauen, ihnen gelingt die Einteilung in Top und Bottom
nicht.
Die Betroffenen fühlen sich lediglich von der körperlichen Erscheinung des
Partners angesprochen, und besonders beim männlichen Vanille ist die
Erregungsfähigkeit auf eine direkte Stimulation der Geschlechtsorgane
reduziert. Beim Akt selbst ist das Vorspiel rudimentär. Es erstreckt sich
meist nur über wenige Minuten und beinhaltet lediglich die Stimulation
erogener Zonen. Die Breite der angewandten Praktiken ist wesentlich
geringer als bei Gesunden und umfaßt meist nur den genitalen
Geschlechtsverkehr.
Auffällig ist weiter die Armut des sexuellen Phantasielebens. Es werden
nur die Identität des Partners, die eigene Identität oder der Ort
verändert.
Die Handlung ist auf den Akt selbst oder auf banale Verführungssituationen
reduziert. ein Machtgefälle wird nicht aufgebaut, wenn auch einige
Vanilles angeben, von Vergewaltigungsszenen erregt zu werden.
Charakteristisch für
Vanilles ist weiter eine Ablehnung der Verwendung von Gegenständen in
jeglicher Form beim Geschlechtsakt, einschließlich Dildos oder Vibratoren.
Diese Ablehnung nimmt bei Gegenständen, die zur Symbolisierung oder
Umsetzung eines Machtgefälles werden, Züge einer ausgeprägten Phobie an.
Zusammengefaßt besteht das Geschlechtsleben beim Vanille aus einer kleinen
Teilmenge des Normalen.
Dabei kann der Grad der Einschränkung erheblich variieren. Die folgenden,
fakultativen Symptome unterstützen die Diagnose:
- Eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit. Es sind Fälle von Vanilles
belegt, die selbst mit
langjährigen Partnern nicht über ihr Geschlechtsleben sprechen und selbst
die eigenen sexuellen Vorlieben nicht mitteilen können. Es ist allerdings
nicht klar, zu welchen Grad dieser Mangel auf einer Angst vor
gesellschaftlicher Zurückweisung beruht. Zu der eingeschränkten
Kommunikationsfähigkeit gehört das Fehlen eines Safewords und anderer
Sicherheitscodes.
- Besonders Vanille- Männer zeigen eine geringere Masturbationsfrequenz
als
die Normalbevölkerung (Sprengler 1977). Bei Vanille- Frauen steigt die
Häufigkeit der Selbstbefriedigung zwar mit dem Bildungsgrad, liegt
allerdings auch noch unter dem Normwert.
- Vanilles werden lebensgeschichtlich früher sexuell inaktiv als die
durchschnittliche Bevölkerung. Dieser Effekt ist bei homosexuellen
männlichen Vanilles besonders deutlich ausgeprägt, die im Alter große
Schwierigkeiten haben können, einen Partner zu finden (``Jugendkult'' der
Vanille- Schwulen.
- Außerhalb des Geschlechtlichens sind Vanilles in der Regel auffällig und
zu erstaunlich kreativen Leistungen fähig. Einige Vanilles sind berühmte
Künstler oder Dichter geworden. Außerhalb ihres Geschlechtslebens sind
Vanilles zwar durchaus in der Lage, Hierarchien zu bilden, diese sind
jedoch außergewöhnlich starr und zeichnen sich durch ein völliges Fehlen
der
Vorstellung des Rollenwechsels oder zeitlicher Begrenzung aus (sie
Patriachat). Differenzialdiagnostisch muß der Vanille abgegrenzt werden zu
Gesunden, die aus religiösen Gründen eine freiwillige Einschränkung bei
der Wahl ihrer Praktiken vornehmen, sowie zu geistig Behinderten, die
komplexere Praktiken kognitiv nicht durchzuführen in der Lage sind. In der
Praxis
präsentiert sich der Vanille oft als normalintelligenter Patient von
unauffälligem Habitus, der meistens von dem Partner oder aus eigenem
Leidensdruck heraus mit der Verdachtsdiagnose von Impotenz, bei Frauen
auch Frigidität, vorstellig wird.
- Typisch bei Vanilles ist die Vorgeschichte.
Zwar durchlaufen sie die normalen Kinderspiele wie ``Räuber und Gendarm''
oder ``Fangen'', binden diese Frühformen jedoch postpubertär nicht in ihr
Geschlechtsleben ein und berichten nicht von der Faszination, die sie auf
ihre normalen Altersgenossen ausübt. Während der Normalgeschlechtliche
sich fast immer an eine Vielzahl von Situationen erinnern kann, in denen
er von
Macht- Unterwerfungs- Darstellungen fasziniert war, fehlen diese
Erfahrungen beim Vanille ganz. Pubertär werden sich Vanille- Jugendliche
im
sogenannten ``Coming Out'' ihrer andersartigen Sexualität bewußt. Während
ihre
Altersgenossen damit beginnen, in unterschiedlichen Rollenspielen mit
ersten Partnern ihre sexuelle Erlebniswelt zu erforschen, bleiben Vanilles
auf
das Ziel des bloßen Geschechtsakts beschränkt.
- Der Vanille zeigt kein Interesse an dem Erlernen von Praktiken und kann
auf sie mit Abscheu oder sogar Angst reagieren. In der Frühphase des
sexuellen
Erwachens, in dem auch der Normalgeschlechtliche stark auf die
körperlichen Erregungsmechanismen konzentriert ist, sind die Unterschiede
oft nicht
auffällig. Das Fehlen einer geistigen Dimension im Sinne einer erotischen
Macht- Hingabe- Fähigkeit wird mit zunehmender Reife
aber immer gravierender. In dieser Phase wird der Vanille zunehmend von
seinen Altersgenossen ausgeschlossen, er erkennt seine eigene sexuellen
Einschränkungen und kann ein mangelndes Selbstwertgefühl entwickeln. Ihre
Außenseiterrolle macht Vanille- Jugendliche suizidgefährdeter. Allerdings
wird die Suizidrate psychoanalytisch auch als fehlende Hemmung zum Beenden
des eigenen Lebens als Folge einer unreifen Persönlichkeit diskutiert.
- Im Erwachsenenalter zeigen Vanilles neben den eigentlichen
Krankheitszeichen eine Reihe von Auffälligkeiten des Sexuallebens, die als
Reaktions- oder
Kompensationsmechanismen zu verstehen sind. Sie entwickeln eine große
Vorliebe für verschiedene ``Stellungen'', orthopädisch teilweise bedenkliche
Verrenkungen, die laut Giese zunehmend an Frequenz und Raffinesse ein Bild
der Sucht annehmen können bei abnehmender Befriedigung. Von besonderer
rechtsmedizinischer Bedeutung ist das erwähnte Fehlen eines
Rauschmitteltabus beim Geschlechtsakt.
- Viele Vanilles nehmen vor dem Geschlechtsverkehr zum Teil erhebliche
Mengen Alkohol zu sich und zeigen
sich uneinsichtig gegenüber den Gefahren von Geschlechtsverkehr unter dem
Einfluß von Drogen. Es ist vermutlich lediglich der primitiveren Auswahl
an Praktiken zuzuschreiben, daß es unter Vanilles nicht zu einer höheren
Anzahl von Verletzungen mit tödlichem Ausgang kommt.
- Fallbeispiel
Der 35- jährige Elektriker Helmut K. wurde von seinem
Hausarzt mit Verdacht auf eine sexuelle Erregungsstörung an die Fachklinik
überwiesen. Der Patient erschien nervös, war bei der körperlichen
Untersuchung unauffällig, aber von seiner eigenen Nacktheit peinlich
berührt. Anamneseerhebung schwierig, da K. unfähig war, frei über seine
Sexualität und bevorzugte Praktiken zu sprechen. Er selbst berichtete
davon, daß Fesselspiele ihm keinen Spaß machen würden, er sich von
Schlagspielen
angewidert fühle und keine Neigung verspüre, beim ehelichen Vollzug ein
Machtgefälle aufzubauen. Schon als kleines Kind habe er nicht verstanden,
warum seine Altersgenossen lieber Fangen spielten als Murmeln.
K. gab an, vor der Sexualaufklärung in der Schule jedes Mal Magenschmerzen
bekommen
und mehrfach diese Stunden geschwänzt zu haben. Ihm war der Sinn der
dargestellten Praktiken, einschließlich des Safewords, nicht verständlich.
Seine erste Knebelung mußte wegen einer Panikattacke abgebrochen werden,
ein Vorfall, mit dem ihn seine Klassenkameraden noch Jahre später
aufzogen.
- Die Vanille-Subkultur
Vor diesem Hintergrund ist die Existenz einer Vanille- Subkultur kritisch
zu
beurteilen. Auf der einen Seite ist es Vanilles so möglich, ihre
eingeschränkte Sexualität ohne Angst vor gesellschaftlicher Zurückweisung
auszuleben. Die Vanille- Subkultur übernimmt die Funktion einer
Selbsthilfegruppe und
gibt ihnen die Möglichkeit, ohne Angst vor Zurückweisung durch einen
sexuell überlegenen Partner ihre eingeschränkte Sexualität auszuleben.
Allerdings
hat Payk drauf hingewiesen, daß es in der Vanillesubkultur zu einer
Chronifizierung der Verläufe kommt, der einzelne Vanille also eine viel
geringe Heilungschance hat, sobald er Kontakt mit der Vanillesubkultur
erhält. Tatsächlich werden bei Vanilles, die an der Subkultur teilnehmen,
die fakultativen Symptome wesentlich eher auftreten als bei Einzelnen.
Vanilles neigen auf subkulturellen Gegebenheiten zu massivem
Alkoholkonsum. Stark alkoholisierte und damit unberechenbare Individuen
sind bei
subkulturellen Zusammenkünften eher die Regel, besonders bei männlichen
Vanilles. Teilweise wird die Vielfalt der Praktiken durch sozialen Druck
noch weiter eingeschränkt, die Unfähigkeit, gewisse Praktiken auszuüben,
wird ausgeweitet durch den Glauben, gewisse Praktiken, zu denen der
Vanille eigentlich in der Lage wäre, seien ``krank'', ``abartig'', ``pervers''
oder auf
andere Art moralisch verwerflich.
Die Vanille- Subkultur sah lange Zeit Masturbation als ein Verhalten an,
das zu körperlichen Schädigungen führte; Vorbehalte gegenüber der
Selbstbefriedigung bestehen bis heute. Die Subkultur fördert weiter
Ansichten über die Rolle der Sexualität und der Gesellschaft, die die Form
von Glaubensbekenntnissen oder Mythen annehmen und zu einem massiven
Auftreten von Intoleranz führen, Vanilles neigen dazu, ihre eigene
Sexualität als ``gesund'' und als ``einzige wahre'' Form zu sehen. Keres
dokumentierte Gewalt gegen normalgeschlechtliche Lesben durch Mitglieder
der Vanille- Lesbischen Subkultur.
In der Vanille- Subkultur entsteht auch eine eigene Vanille- Pornographie,
die wie ihre Sexualität selbst durch eine
Verflachung des Inhalts, der Form und der Mittel gekennzeichnet ist. Filme
und pornographische Literatur beschränken sich auf endlose Darstellungen
von Genitalvereinigungen, in Einzelfällen auch Oral- oder Analverkehr. Die
Darsteller sind nicht kostümiert, die Kulisse ist oft auf ein Bett
beschränkt und die Handlung nicht in einen zusammenhängenden Rahmen
gebettet. Die dargestellte Situationen sind stereotyp und ohne
individuelle
Eigenheiten, das Phanstasieleben eines Vanilles gleicht praktisch völlig
dem jedes anderen. Auf den Normalgeschlechtlichen wirken diese Filme
primitiv
und erinnern an die Darstellung von Tierkopulationen in
landwirtschaftlichen
Lehrfilmen. Von medizinischer Seite ist daher die Unterstützung der
Vanille-Subkulturen entschieden abzulehnen, auch wenn sie juristisch
leider nach
einer Analyse von Sitzmann unantastbar sind. Die Scheinbefriedigung, die
ein Vanille beim Eintritt in die Subkultur erfährt, steht in keinem
Zusammenhang zu der dadurch verfestigten Einschränkung seiner
Lebensqualität durch
verminderte sexuelle Erlebnisfähigkeit.
- Sind Vanillas beziehungsfähig?
Beziehungen zwischen Vanilles und Menschen mit normaler Sexualität
scheitern oft an der eingeschränkten Erregbarkeit des Vanilleanteils.
Einzelne Paare
haben sich arrangieren können, indem sie sich auf den reinen Vanilleanteil
der Beziehung reduzieren. Besonders die fehlende geistige Dimension des
Geschlechtsakts macht eine solche Selbsteinschränkung zu einer Qual für
den Normalgeschlechtlichen. In Fällen, wo der Vanille sich seiner eigenen
Einschränkungen nicht bewußt ist oder die normalgeschlechtlichen Wünsche
seines Partners nicht nachvollziehen kann, fühlt sich der gesunde Partner
oft unverstanden. In destruktiven Partnerschaften kann der Vanille
massiven Druck auf seinen Partner ausüben, seine vollständige Sexualität
zu
verleugnen. Eine Einschränkung der Fruchtbarkeit bei Vanilles ist nicht
beobachtet worden. Als Ursache für Vanilles werden verschiedene Modelle
diskutiert. Die Psychoanalyse geht von einer unreifen
Persönlichkeitsentwicklung aus. Demnach verharren Vanilles in der
genitalen Phase, gelangen also nicht aus den drei Ich- bezogenen Phasen
der
Persönlichkeitsentwicklung (oral, anal, genital) in die reife Partner-
bezogene Endphase.
- Ursachenforschung
Als Ursache wird eine Abwehr der Kastrationsangst statt der
physiologischen Umwandlung der Kastrationsangst durch bipolare
Objektidentifikation mit
dem Kastrator und Kastrierten angenommen. Die erweiterte Theorie von
Deutsch,
daß alle Frauen im Grunde Vanilles sind, hat sich als nicht haltbar
gezeigt. Andere Psychologen gehen davon aus, daß Vanilles aus lieblosen
Familien
stammen und bei ihnen deshalb unzureichendes Grundvertrauen für Formen der
gespielten Hierarchiebildung in persönlichen Beziehung besteht. So soll
die Unfähigkeit von Vanilles, sich als Bottom fallenzulassen bzw.
Verantwortung als Top zu übernehmen, auf ein mangelndes Grundvertrauen
zurückzuführen
sein. Eine Reihe von Psychiatern haben eine Unfähigkeit zur Unterscheidung
von Realität und Phantasie postuliert und sehen Vanille als eine
Sonderform der Schizophrenie. Das würde die Unfähigkeit erklären, in
Rollenspiele
einzutreten, wird aber widersprochen von der Tatsache, daß Vanilles
außerhalb des sexuellen Bereichs durchaus auch zur Annahme von komplexen
Spielidentitäten fähig sind und genauso eine Vorliebe für Romane und
Spielfilme zeigen wie Normalgeschlechtliche. Sozialwissenschaftliche
Ansätze sehen ein erlerntes, allgemein lustfeindliches Verhalten und
verweisen auf
den Einfluß verschiedener Religionen. Aus ihrer Forschung ist eine
Diskussion entstanden, ob Vanille- Eitern die Erziehung ihrer Kinder
verwehrt werden sollte. Eine Reihe von Neurologen hat einen genetischen
Defekt in verschiedenen Teilen des Erregungsystems postuliert, sei es bei
der Fähigkeit, soziales Machtgefälle zu erkennen oder die Reize in
sexuelle Erregung umzusetzen. Andere sehen in der verminderten
Masturbationsfrequenz und dem frühen Ablachen der sexuellen Tätigkeit im
Alter einen
grundsätzlicheren Defekt im sexuellen System.
- Die Therapie
Die Therapie von Vanilles gestaltet sich außerordentlich schwierig.
Allgemein muß der Zustand als nicht heilbar gesehen werden, viele
Patienten können aber mit ausreichender Hilfe eine gewisse Erweiterung
ihrer
sexuellen Erlebniswelt erfahren. Die besten Erfolge führten bisher zu
gelegentlichen
Augenbinden- oder leichten Fesselspielen, allerdings bleibt auch hier oft
die Erregungsbildung an der optischen Situation, statt an der Beziehung
zwischen den Partner fixiert. Stereotaktische Eingriffe an den
Gehirnseitenlappen, Elektroschocks sowie Hormonbehandlungen sind alle eher
von mäßigem Erfolg gewesen. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen und andere
Formen der Gesprächstherapie scheitern oft an der mangelnden
Krankheitseinsicht des Patienten. In diesen Fällen kann eine
Zwangstherapie begleitender Symptome wie Alkoholismus angezeigt sein.